Mein Name ist Reza und ich bin 25 Jahre alt. Vor zehn Jahren, also mit fünfzehn, habe ich meine Heimat Afghanistan ganz alleine verlassen und meine Familie seitdem nicht mehr gesehen.
Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf mit ungefähr zwanzig Häusern in Maidan Wardak, einer Provinz südwestlich von Kabul.
Meine Familie war wirtschaftlich nicht schlecht gestellt. Mein Vater arbeitete für die Regierung, war außerdem Besitzer eines Autogeschäfts mit einigen Angestellten und wir hatten, so wie fast alle im Dorf, auch ein paar Tiere, zwei Kühe und fünf oder sechs Hühner.
Ich habe noch fünf Geschwister, drei Schwestern und zwei Brüder. Ich bin der älteste.
Im Dorf war nur eine Zeltschule, in die ich acht Jahre lang ging. Es gab dort nicht viele Möglichkeiten und ich habe auch keinen Abschluss gemacht. Aber immerhin habe ich zwei Jahre lang ein wenig Englisch gelernt, was mir schon oft von großem Nutzen war. Nach der Schule mussten wir in der Regel noch in die Moschee gehen.
Unser Leben war eigentlich nicht schlecht, aber Wardak ist eine Provinz, in der viele Bevölkerungsgruppen zusammenleben, was häufig zu Konflikten führt. Unsere Familie gehört zu den Hazara, einer Volksgruppe, die immer schon Verfolgungen und Diskriminierungen ausgesetzt war. Schon im 19. Jahrhundert wurden viele von den Paschtunen getötet, in unserer Zeit dann durch die radikalislamistischen Terrorgruppen der Taliban und des IS.
In unserem Dorf litten wir unter den Angriffen der Kutschis, einer weitgehend paschtunischen und als Nomaden lebenden Volksgruppe, die öfters unser Dorf überfielen, Tiere mitnahmen und uns terrorisierten. Als sie schließlich sogar zwei unserer Nachbarn töteten, entschied mein Vater, dass etwas passieren müsse. Er schickte meine Mutter mit uns Kindern zu seinem Schwager nach Gazni. Nachdem wir ein paar Wochen dort gewesen waren, beschloss er, dass ich alt genug sei, um das Land ganz zu verlassen. Zusammen mit meinem Onkel organisierte er meine Flucht.
An Vieles kann ich mich nicht mehr erinnern und Vieles verstand ich auch gar nicht, weil ich noch zu jung war. Ein Mann brachte mich im Auto nach Kabul, diese für mich so unglaublich große Stadt, die ich das erste Mal sah. Am Flughafen gab er mir meinen Pass und ein Bild von dem Mann, der mich abholen würde und setzte mich in ein Flugzeug in die Türkei. Der Mann auf dem Foto wartete dann auch tatsächlich schon mit meinem Namensschild auf mich. Zwei, drei Wochen blieb ich bei ihm in seinem Haus, dann brachte er mich mitten in der Nacht, es muss so circa ein Uhr gewesen sein, zu einem Bus, mit dem ich zusammen mit etwa 35 anderen Leuten ans Meer gebracht wurde. Morgens so gegen 6 oder 7 Uhr setzte man uns in ein Schlauchboot, fragte, ob einer das Boot steuern könne. Es meldete sich tatsächlich einer der Männer und dann fuhren wir los. An Bord waren auch vier Familien mit kleinen Kindern.
Wie ich später erfuhr, hatte man den Zeitpunkt für die Überfahrt bewusst gewählt. Es war an Eid, dem Fest des Fastenbrechens, weil an diesem Tag auch die Polizisten feiern würden.
Wir saßen dicht an dicht im Boot, aber die Überfahrt verlief relativ unproblematisch. Als wir dann aber kurz vor der Küste waren, machte einer der Männer, der wusste, wie die Sache laufen musste, ein Loch in das Gummiboot, damit die griechische Polizei uns nicht wieder zurück schicken konnte.
Es kamen dann auch tatsächlich Polizisten. Trotz des kaputten Bootes ließen sie uns aber nicht an Land. Fünf, sechs Stunden saßen wir dort fest, mussten mit dem Leck fertig werden, das Loch zuhalten, unentwegt Wasser aus dem Boot schöpfen. Die Kinder weinten, auch sogar einer der Männer. Zum Glück trugen wir alle Schwimmwesten, denn es fielen auch welche ins Wasser.
Dann kam endlich ein großes Boot, das uns alle an Bord nahm und auf einer Insel, ich weiß den Namen nicht mehr, absetzte. Man brachte uns in ein Camp, ich glaube es war von Unicef, wo man erst einmal unsere Fingerabdrücke nahm. Nach etwa einem Monat bekam ich ein Papier mit der Anweisung, dass ich innerhalb von drei Tagen das Land verlassen müsste.
Ich hatte noch Geld von dem Mann, der mich in Kabul zum Flughafen gebracht hatte, etwa 300 Euro. Davon konnte ich für 50 Euro eine Überfahrt mit der großen Fähre bezahlen und schaffte es nach Athen.
Dort gab es einen Park, in dem sich immer viele Flüchtlinge trafen, ich glaube, er hieß Alexanderpark. Ich telefonierte mit meinem Onkel und er nannte mir die Telefonnummer von einem Kontaktmann und schickte mir Geld.
Nach zwei oder drei Tagen ging es dann weiter nach Mazedonien, von dort nach Serbien, wo ich wieder in einem Camp landete und ein Papier bekam, in dem stand, dass ich nach spätestens 30 Tagen das Land verlassen müsse.
Es ging also weiter nach Ungarn, genauer gesagt nach Budapest. Dort kann ich mich wieder an einen Park erinnern, in dem sich auch viele Ausländer trafen. Und ich telefonierte auch wieder mit meinem Onkel. Er sagte, ich müsse nach Schweden gehen.
Ich hatte aber eine afghanische Familie getroffen, die unbedingt nach Deutschland wollte und sie wollten, dass ich mit ihnen ginge, weil sie sich nicht verständigen konnten, während ich ja Englisch sprach.
Wir fuhren dann mit einem großen Auto, ich glaube, es war ein Mercedes, für 500 Euro für uns alle zusammen nach München. Dort blieb ich ein paar Tage in einem Park, wo auch Obdachlose übernachteten. Es war mittlerweile August und man konnte ganz gut im Freien schlafen. Ich wollte aber auch noch weiter nach Schweden. Also ging ich zum Bahnhof, um die Verbindungen zu checken.
Ich schaute auf die Anzeigetafeln und hatte keine Ahnung, wo ich hin sollte. Da legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter. Ich erschrak, drehte mich um und hinter mir standen zwei Polizeibeamte, ein Mann und eine Frau. Sie fragten mich auf Englisch, wo ich hinwolle. Ich sagte nach Schweden. Sie empfahlen mir eine Verbindung nach Malmö, die ich dann auch ohne weiter nachzufragen nahm.
Als ich in Malmö ausstieg, kaufte ich mir erst einmal ein paar Croissants und fragte dabei den Verkäufer, wie ich weiter nach Schweden käme. Er schaute mich ziemlich komisch an und ich fand endlich heraus, dass Schweden gar keine Stadt, sondern ein Land ist.
Durch Zufall traf ich dann einen Afghanen, der mich erst einmal bei sich aufnahm und mir erklärte, dass ich mich bei der Migrationsbehörde melden müsse. Ich fuhr also nach Stockholm, wo ich ein etwa halbstündiges Interview hatte. Die Frau war sehr nett und fragte mich, ob ich es lieber kalt oder warm hätte, nach Norden oder Süden wolle.
Ich kam dann nach Östersund in ein Camp. Eigentlich war es aber eine Etage in einem ansonsten ganz normalen Wohnhaus. Wir lebten dort mit 12 Jugendlichen und dem wechselnden Personal in einer Wohngruppe. Jeder hatte ein Einzelzimmer und der Rest waren Gemeinschaftsräume. Wir hatten sogar einen Billardtisch. Außer mir gab es zwei Mädchen irgendwo aus Afrika, drei Syrer, einen Iraner und der Rest waren auch Afghanen. Das war ganz okay. Ich blieb dort drei Jahre, bis ich achtzehn war. Dann bekam ich eine eigene Wohnung, hatte aber natürlich immer noch Kontakt zu meinen Betreuern.
Nach der Ankunft in Schweden ging ich zuerst einmal drei Monate in einen Kurs, in dem ich nur die Landessprache lernte, danach noch den Rest des Schuljahres in die achte Klasse der ganz normalen Regelschule. Nach den Sommerferien ging es dann weiter in der neunten Klasse. Ich arbeitete sehr fleißig, auch zu Hause, und hatte das Glück, ein Mädchen kennenzulernen, mit dem ich mich anfreundete. Sie und ihre Eltern unterstützten mich sehr. Ich schaffte es aufs Gymnasium und machte 2020 das Abitur. Nebenher jobbte ich auch noch in einem Supermarkt.
Ich hatte vor, ein Bauingenieursstudium zu beginnen, aber erst einmal wollte ich ein, zwei Jahre arbeiten, um ein bisschen Geld zu verdienen. Das machen in Schweden viele Abiturienten so.
Ich arbeitete also erst einmal weiter im Supermarkt und außerdem auch noch in einem Krankenhaus, wo ich in der Küche und beim Putzen aushalf. Letzteres machte ich aber nicht sehr lange.
Alles hätte gut werden können, wenn es nur nicht die Probleme mit meinem Asylantrag gegeben hätte. Ich hatte ihn direkt 2015 gestellt und musste dann drei Jahre auf den Bescheid warten. Angeblich weil es so wenig Personal für die Bearbeitung gab. Und dann fehlten irgendwelche Dokumente von meinem Vater und der Antrag wurde abgelehnt. Mein Anwalt klagte gegen den negativen Bescheid und ich durfte, weil ich gut in der Schule war, bis zum Abitur bleiben.
Danach beantragte mein Anwalt noch einmal eine Aufenthaltsverlängerung. Das ging durch alle Instanzen, aber im Oktober 2022 kam dann der Bescheid von der obersten Migrationsbehörde, dass ich abgeschoben werden sollte. Da aber mittlerweile die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen hatten, gab es erst einmal keine Abschiebungen.
Trotzdem meinte mein Anwalt, dass mein Status doch sehr unsicher sei, ohne Papiere, ohne Rechte. Er riet mir, es einmal in Deutschland zu versuchen, weil Deutschland gerade vielen wegen der Taliban gefährdeten Afghanen versprochen habe, sie aufzunehmen. Meine Chancen in Deutschland seien wahrscheinlich besser. Also beschloss ich, es zu probieren.
Am 15. Mai 2023 landete ich in Berlin, meldete mich bei der Behörde und stellte einen Asylantrag. Von dort wurde ich nach Augsburg geschickt. Ich kam ins sogenannte Camp 16, bekam einen Ausweis, dann ging es nach drei Tagen weiter in ein anderes Camp, wo ich ca. zwei Monate blieb, von dort nach Inningen, und nach einem Monat wieder weiter in die Unterkunft, in der ich jetzt immer noch wohne.
Am 17. Oktober durfte ich mit einem Integrationskurs beginnen. Meine Freude darüber dauerte aber nicht lange. Ich war ja schon in Schweden gemeldet und wegen des Dublin-Abkommens sollte ich nach zwei Monaten auch wieder dorthin abgeschoben werden.
Um vier Uhr in der Früh kamen sechs Polizisten ins Heim, um mich zu holen. Vier weitere standen dann sogar noch draußen vor der Tür. Sie sagten zu mir: „Pack deine Sachen, du musst zurück nach Schweden.“
Ich verabschiedete mich von meinem Zimmergenossen, einem Ukrainer, dann fuhren wir nach München. Dort war ich in einem Haus mit nur zwei oder drei Zimmern. Die Räume hatten ziemlich dünne Wände und ich hörte im Nebenraum, wie ein anderer Mann aus Afghanistan weinte und bat: „Bitte, bitte schickt mich nicht zurück nach Belarus!“
Da ging es mir mit einer Abschiebung nach Schweden ja eigentlich noch gut.
Um 10.30 Uhr sollte mein Flugzeug abheben. Ich hatte aber ziemliche Rückenschmerzen und Probleme mit meiner Schulter und verlangte vorher noch nach einem Arzt.
Dazu muss ich erklären, dass ich 2017 in Schweden einen Skiunfall hatte. Wir fuhren damals mit der Schule in eine Skifreizeit. Ich stürzte, brach mir das Schlüsselbein und noch einen anderen Knochen im Schulterbereich und musste operiert werden, eine ziemlich komplizierte Sache, von der mir die Narben wohl ein Leben lang bleiben werden. Außerdem kommen auch die Schmerzen immer wieder und ich leide seitdem auch bei bestimmten Belastungen unter Lumbago, also plötzlich auftretenden starken Schmerzen bis zur Bewegungsunfähigkeit im unteren Rückenbereich.
Ich konnte es den Polizisten natürlich nicht so sagen, aber die Lumbago war tatsächlich ausgelöst worden durch ihre rücksichtslose Fahrweise. Sie waren nämlich viel zu schnell über eine Verkehrsberuhigung gefahren, sodass wir im Auto ziemlich heftig zusammengestaucht wurden.
Der ältere Polizist, den ich darum bat, den Arzt zu sehen, sagte: „Mach hier keine Show. Mich kannst du nicht verarschen. Wirst du nach Schweden fliegen?“
Und ich sagte: „Ja, ich fliege nach Schweden, aber ich brauche vorher noch einen Arzt.“
Dann zeigte ich ihm meine Schulter. Nachdem er die Operationsnarben gesehen hatte, sagte er: „Okay, du kannst zum Arzt, aber dann fliegst du nach Schweden.“
Der Arzt gab mir Schmerztabletten und versprach mir, dass sie schnell wirken würden und die Rückenschmerzen in einer halben Stunde weg seien. Das waren sie aber nicht.
Die Beamten brachten mich trotzdem ins Flugzeug.
Ich sagte ihnen: „Ich habe solche Schmerzen, ich kann mich nicht setzen. Ich fliege ja nach Schweden, aber es geht nur im Stehen oder im Liegen.“
Daraufhin schaltete sich der Pilot ein und sagte: „Das geht auf gar keinen Fall. Wenn er sich nicht hinsetzen kann, müsst ihr ihn wieder rausbringen, dann nehme ich ihn nicht mit!“
Also brachten die Beamten mich wieder raus und sagten, ich solle zurück ins Heim fahren.
Ich fragte sie, ob sie mich denn nicht hinbringen würden. Schließlich hätten sie mich ja auch abgeholt und es ginge mir nicht gut. Aber sie brachten mich nur zur U-Bahn und sagten: „Schau zu, wie du klarkommst!“
Ich fuhr zurück ins Flüchtlingsheim, wusste aber, dass ich dort nicht bleiben konnte, weil sie es wieder versuchen würden. Bei meinem kurzen Aufenthalt in Berlin hatte ich jemanden von der Kirche kennen gelernt. Mit der Person nahm ich Kontakt auf und sie half mir, so lange in Berlin unterzutauchen, bis die Frist abgelaufen war, in der man mich nach dem Dublin-Verfahren in das für mich zuständige Schweden hätte abschieben können.
Danach beantragte mein Anwalt ein neues Asylverfahren über das BAMF. Nach meiner Anhörung durfte ich dann auch wieder einen Integrationskurs besuchen, konnte praktisch dort einsteigen, wo ich aufgehört hatte und hatte sogar das Glück wieder beim selben Lehrer zu landen.
Neben dem Deutschlernen arbeitete ich auch fleißig, verdiente Geld und knüpfte einige gute Kontakte. Ich wollte aus dem Heim ausziehen, fand auch eine Wohnung, die ich mir selbst hätte finanzieren können, hatte schon den Mietvertrag in der Tasche, aber beim Landratsamt sagten sie mir, dass man als Asylbewerber nicht aus der Flüchtlingsunterkunft ausziehen dürfe.
Im April kam dann der negative Bescheid. Mein Asylantrag war abgelehnt. Mein Anwalt legte sofort Widerspruch ein und dem wurde auch stattgegeben, weil die Ablehnung überhaupt keine stichhaltige Begründung enthielt und sich die Situation in Afghanistan ja auch grundlegend geändert hat.
Für mich ist es völlig unvorstellbar, noch einmal dort zu leben. Ich bin mit fünfzehn dort weg, habe auch kaum noch Kontakt zu meiner Familie. Mein Vater und einer meiner Brüder sind an Corona gestorben. Ich schicke meiner Mutter manchmal noch Geld, aber unser Verhältnis ist leider nicht mehr sehr eng.
Das Verhältnis zur Familie meiner Freundin in Schweden ist dagegen sehr gut. Sie hat mich vor Kurzem besucht und wir wollen heiraten. Aber zuerst möchte sie noch ihr Studium beenden. Und wir müssen auch noch jede Menge Papiere besorgen und wissen noch nicht, wie und wo wir dann leben können und sollen. Ihre Mutter stammt aus Schottland. Vielleicht könnten wir ja sogar dahin gehen, denn wir sprechen ja beide Englisch und sie müsste dann nicht auch noch Deutsch lernen. Aber das liegt noch in weiter Ferne. Irgendwie werden wir es schon schaffen.
Bei mir stehen jetzt auch erst einmal andere Dinge im Vordergrund: Ich hatte das Glück, einen Ausbildungsplatz zum Elektriker zu finden. Und weil meine Lehre schon Anfang September beginnt, mein Integrationskurs aber erst im Oktober endet, durfte ich die DTZ-Prüfung vorziehen. Mein Lehrer fand, dass ich gute Chancen hätte, das B1-Zertifikat früher zu schaffen und ich habe ihn nicht enttäuscht. Ich habe schon immer gut und schnell gelernt und weiß auch, wie man das alleine machen muss.
Was meine Probleme in Schulter und Rücken betrifft habe ich mittlerweile übrigens von einem Orthopäden ein Gerät verschrieben bekommen, das mir ein wenig Linderung verschafft, wenn die Schmerzen wieder kommen.
Aber ich warte immer noch auf meinen Asylbescheid und hoffe, dass ich endlich einmal zur Ruhe kommen kann. Denn seit ich vor zehn Jahren meine afghanische Heimat verlassen habe, hänge ich permanent in der Luft. Das ist keine schöne Situation.
Vielen Dank, Reza, für den Mut diese Geschichte hier zu erzählen.